Engpass im WelthandelComputer-Chips, Holz, Chemikalien, Gummi und andere Vor- und Zwischenprodukte – in vielen Branchen wird derzeit über Materialknappheit im Welthandel geklagt. Die Produktion droht zu stocken und die Preise für viele Rohstoffe und Ausgangsprodukte schießen in die Höhe – mit ein Grund für die inzwischen deutlich anziehende Inflation. Handelt es sich nur um ein vorübergehendes Phänomen oder gibt es längerfristige Ursachen für die vielen “Flaschenhälse”? Und wie lassen sich Engpässe künftig besser vermeiden? Fragen, die derzeit zahlreiche Experten beschäftigen.

Laut einer vom Münchner Ifo-Institut im April durchgeführten Umfrage beklagten rund 45 Prozent der teilnehmenden Industriefirmen akute Materialengpässe. Zu Jahresbeginn waren es erst gut 18 Prozent gewesen und im Oktober letzten Jahres hatten nur 7,5 Prozent der Unternehmen Materialprobleme gemeldet. Man kann also von einer deutlichen Verschärfung der Materiallage sprechen. Besonders betroffen waren bei der April-Umfrage Hersteller von Gummi- und Kunststoffwaren (71,2 Prozent), gefolgt von der Auto- und Autozulieferindustrie (64,7 Prozent), Produzenten von elektrischen Ausrüstungen (63,3 Prozent) und Computer-Herstellern (57,6 Prozent). Auch Baubranche und Möbelhersteller leiden unter Materialmangel – ihnen droht das Holz auszugehen.

Nach dem Corona-Stillstand – starke Nachfrage trifft auf limitiertes Angebot

Diese Engpässe haben viel – aber nicht ausschließlich – mit dem weltweiten Pandemie-Geschehen und seinen wirtschaftlichen Folgen zu tun. Sie zeigen deutlich, wie sehr Corona die eingespielten ökonomischen Prozesse gestört und durcheinander gebracht hat. Obwohl sich allmählich eine Normalisierung des Wirtschaftslebens abzeichnet, lässt sich nicht einfach an die Vor-Corona-Situation anknüpfen und “Business as usual” betreiben. Es kommt zu teilweise schockartigen Anpassungen, die sich über verschiedene Produktionsstufen fortsetzen. Die Entwicklung läuft nicht synchron und damit auch nicht reibungslos. Oder anders ausgedrückt: “es ruckelt” – ein Ausdruck, den man auch in anderem Corona-Zusammenhang kennt.

Monatelang herrschte nicht nur bei uns Lockdown. Bis auf wenige Ausnahmen blieben die meisten Geschäfte überall geschlossen. Verbrauchern wurde das Geldausgeben schwer gemacht. Mit den Lockerungen und den zunehmenden Öffnungen wird jetzt lange Versäumtes nachgeholt. Die aufgestaute Nachfrage kann sich “entladen” und trifft auf eine Angebotsseite, die auf diesen Ansturm noch nicht richtig eingestellt ist. Dass da “Mangelerscheinungen” auftreten, erklärt sich fast von selbst. In vielen Betrieben ist die Produktion noch nicht wieder auf Vor-Corona-Niveau hochgefahren. Das funktioniert auch nicht einfach durch Umlegen eines Schalters, schon gar nicht bei einem Nachfrageschock. Plötzliche und vermehrte Nachfrage nach Endprodukten bedeutet zwangsläufig plötzlichen und zusätzlichen Bedarf an Vor- und Zwischenprodukten und ist eine Erklärung für die aktuelle Materialknappheit.

Wegen Marktstruktur und Riesen-Frachtern – unflexible Containerschifffahrt

Die internationale Container-Schifffahrt hat zusätzlich zur Verknappung beigetragen. Der Markt für Containerschiffe zeigte sich in den letzten Wochen und Monaten nicht so flexibel, wie das angesichts des wieder aufgelebten Welthandels eigentlich erforderlich gewesen wäre. Als der Welthandel Corona-bedingt heftig einbrach, wurden die Containerschiff-Kapazitäten reduziert und man konzentrierte sich nur noch auf die Hauptrouten. Auch jetzt werden die Routen noch nicht wieder so bedient wie das vor Corona der Fall war. Und selbst die vorhandenen Kapazitäten werden nicht immer voll ausgenutzt. Zeitweise fuhren Schiffe sogar komplett leer aus den USA nach China, um den Warenstau in den chinesischen Häfen schneller abbauen zu können – das rechnete sich mehr, als Hin- und Rückweg voll beladen zu fahren.

Auch hier wirken sich Kapazitätsengpässe in steigenden Preisen aus – die Frachtraten sind so hoch wie lange nicht. Dass der Containertransport per Schiff so unflexibel ist, hängt auch mit der oligopolistischen Struktur auf der Angebotsseite zusammen. Drei Unternehmen bzw. Unternehmensallianzen kontrollieren 83 Prozent des Marktes. Eine solche Marktstruktur wirkt sich stets hemmend auf Anpassungsfähigkeit und -willigkeit aus. Hinzu kommt der Trend zu immer größeren Containerschiffen, die aus Kostengründen und wegen der berühmten “Economies of scale” bevorzugt werden. Auch sie sind ein Hindernis für Flexibilität.

Schiffsstau am Suezkanal nach Ever Given-Havarie

Als “Tüpfelchen auf dem i” wirkte sich die vorübergehende “Verstopfung” des Suez-Kanals durch den Riesen-Containerfrachter “Ever Given” Ende März aus. Er blockierte die wichtige Seefrachtverbindung zwischen Europa, dem Nahen- und Fernen Osten und führte vor Ort zu einem gewaltigen Schiffsstau. Zwar konnte die Blockade nach wenigen Tagen beendet werden, doch es dauerte, bis sich der Stau auflöste. Dieser setzte sich dann zum Teil zeitversetzt in den Zielhäfen fort. Folge: zunächst blieben bestellte Güter wochenlang aus, dann kamen sie schlagartig in den Häfen an und konnten erst Zug um Zug weiterbefördert werden. Die Störungen waren noch in den letzten Wochen wirksam und lösen sich erst jetzt allmählich auf. Auch dadurch ist es zu Engpässen gekommen.

China kauft die Märkte leer

Eine weitere Ursache für Materialknappheit ist, dass einige Volkswirtschaften bereits wieder voll unter Dampf stehen, während wir uns noch aus dem Lockdown herauswinden. Der Re-Start ist vor allem in China und anderen ostasiatische Ländern schon längst geglückt. Dort brach Corona zuerst aus und legte die Wirtschaft lahm. Der Ferne Osten kam aber auch als erstes aus der Krise wieder heraus. In der Volksrepublik stiegen die Exporte bereits im dritten Quartal 2020 um 9,6 Prozent, im vierten sogar um 11,6 Prozent. Wer mehr Waren produziert, braucht mehr Material. Oder anders – und etwas polemisch – ausgedrückt: die Chinesen haben aufgrund der bei ihnen früher einsetzenden wirtschaftlichen Erholung den Markt an Vor- und Zwischenprodukten leergekauft. Das führt jetzt, wo auch bei uns die Nachfrage wieder einsetzt, zu Engpässen bei der heimischen Industrie.

Lieferketten störungssicherer machen

Insgesamt hat die Pandemie gezeigt, wie störanfällig die internationalen Lieferketten sind. Man hatte sich an das nahtlose Ineinandergreifen der einzelnen Kettenglieder gewöhnt und konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieses System mal ernsthaft Probleme bekommen würde. Optimierungen der Lieferketten wurden stets unter Kosten- und Effizienzgesichtspunkten vorgenommen. Das führte zu einer Minimierung der Lagerhaltung und der umfassenden Verbreitung des Just-in-time-Prinzips. Gerade die Just-in-time-Produktion stößt aber bei Störung von Lieferketten sofort an ihre Grenzen.

Es gibt daher inzwischen durchaus Forderungen, Lieferketten aufzubrechen und Produktionsschritte wieder stärker dorthin zu verlagern, wo auch die Nachfrage stattfindet. Die Abhängigkeit von störungsfreier Belieferung soll dadurch verringert werden. Allerdings würden damit wesentliche Kostenvorteile der internationalen Arbeitsteilung aufgegeben. Die Globalisierung, die nicht nur den entwickelten Industrieländern große Wohlstandsgewinne gebracht hat, würde zum Teil rückgängig gemacht – entsprechende Wohlstandsverluste wären nicht zu vermeiden. Dieser Weg kann daher nicht zielführend sein.

Just-in-time mit Vorsicht betreiben

Künftig müssen aber die Risiken gestörter Lieferketten stärker in den Blick genommen werden und es ist mehr Risikovorsoge nötig. Corona ist bestimmt nicht die letzte Pandemie und mit Ereignissen wie Blockaden von Seewegen, Naturkatastrophen und Produktionsausfällen an entscheidenden Stellen ist immer zu rechnen. Die Risikokosten wurden bislang vernachlässigt. Wenn man sie mit in die Kalkulation einbezieht, rechnet sich vielleicht doch eine begrenzte Lagerhaltung als Risikopuffer. Just-in-time würde damit um das Prinzip der Vorsicht erweitert, ohne die internationale Arbeitsteilung und die Lieferketten in Frage zu stellen.